Die häufigsten Kulturschocks in Deutschland. Wie andere Kulturen sich hierzulande fühlen


Durch mein Praktikum habe ich Anna Lassonczyk kennenlernen und interviewen dürfen. Sie ist zertifizierte selbstständige interkulturelle Trainerin und ihr Berufsalltag besteht daraus, global agierende Unternehmen bei der interkulturellen Kommunikation mit Kunden, Mitarbeitern und Geschäftspartnern anderer Nationalitäten zu unterstützen. Sie arbeitet gleichzeitig als internationale Rednerin und Dozentin für interkulturelle Kommunikation an vielen deutschen und ausländischen Universitäten.. 

Anna ist in Polen geboren und schon in ihrer Kindheit reiste sie oft zwischen Polen und Deutschland und wuchs in den beiden Kulturen auf. Obwohl sie damals die wirklichen Unterschiede zwischen den beiden Ländern nicht in Worte fassen konnte, spürte sie schon, dass das Leben und Verhalten der Menschen in Deutschland anders ist als in Polen. Vor allem faszinierte sie die Anonymität, die Individualität und das Gefühl der mentalen Freiheit und Toleranz in Deutschland, die sie in Polen nicht in diesem Maß erlebte. In Polen achteten ihre konservativen katholischen Eltern viel mehr darauf, was sich gehört und was “die anderen” (wie entfernte Familienmitgliedern, Kollegen, die Nachbarn) dazu sagen… Man wollte dazugehören. In Deutschland lebte dagegen eher jeder für sich, ohne viel Rücksicht auf die anderen, es sei denn, etwas (wie wann man die Waschmaschine benützen oder ein Instrument spielen) durch die Hausordnung oder andere Gesetze definiert wurde. 

Erst als sie älter wurde, hat sie den Fachbegriff “Kulturschock” kennengelernt  und sie  stellte fest, dass die Unterschiede, die sie damals in Polen und Deutschland erfuhr, kultureller Natur waren. Anna wurde immer mehr und mehr von der Vielfalt und den kulturellen Besonderheiten auf der ganzen Welt fasziniert.  Um dieses Thema in der Tiefe zu erforschen, absolvierte sie “Sprachen, Wirtschafts- und Kulturraumstudien” an der Universität Passau in Bayern und widmete ihre Diplomarbeit den “Kulturspezfischen Zeitkonzepten in Kontext interkultureller Kommunikation” in der sie zeigte, wie unterschiedlich Menschen weltweit mit der Zeit umgehen.

Anna beichtete mir, dass obwohl Deutschland und Polen Nachbar sind, als sie alleine mit 19 von ihrem polnischen Geburtsort nach Bayern umgezogen ist, sie ein Kulturschock nach dem anderen erlebte, weil sie damals nicht viel über die deutsche Kultur wusste und deswegen in einige Fettnäpfchen getreten ist, die zu peinlichen Situationen geführt haben. Jetzt freut sie sich aber sehr, dass sie dank dieser Erfahrung in der Lage ist, andere davor zu bewahren und sie jetzt eine Brücke zwischen verschiedenen Kulturen bauen kann . Sie unterstützt Menschen aus verschiedenen Ländern und internationale Teams dabei, sich trotz verschiedenen Mentalitäten zu verständigen und die anderen Kulturen besser zu verstehen. Sie ist eine beliebte Trainerin für interkulturelle Kommunikation in vielen Großkonzernen und internationalen Institutionen.

Als nächstes fasse ich zusammen, was Anna mir über ihre kulturellen Beobachtungen in Deutschland erzählte. Damit möchten wir Expats, die in Deutschland leben und/oder arbeiten oder Menschen, die vorhaben, nach Deutschland umzuziehen dabei helfen, die deutsche Kultur besser zu verstehen und sich sowohl im Geschäftsalltag als auch im privaten Leben sicherer und wohler zu fühlen und sich schneller einzuleben und nach Wunsch zu integrieren, ohne dabei eigene Herkunft zu vergessen. Die Kulturunterschiede können eine Bereicherung sein, die uns inspirieren und erlauben, bewusst zu wählen, wie wir leben und uns verhalten wollen. 

Deutschland: Kultur und Mentalität

1. Die in Deutschland stark ausgeprägte sgeprägte Einstellung, dass “Zeit Geld ist”  kann auf andere Kulturen unmenschlich wirken

In Deutschland hat Pünktlichkeit, Zeitmanagement und Effizient einen sehr hohen Stellenwert. Anna erzählte mir, dass sie als Studentin einmal zur Studienberatung gehen wollte und gegen 11:55 Uhr ankam.. Die Öffnungszeit war bis 12 Uhr. Für ihr polnisches Verständnis war sie pünktlich. Jedoch ließ die Mitarbeiterin sie in das Beratungsbüro nicht ein, weil sie “pünktlich” in die Mittagspause gehen wollte. Anna hat es damals sehr persönlich genommen… Anderes Mal wollte Anna kurz vor der geplanten Abfahrt des Zuges noch in diesen einsteigen. Der Zugbegleiter stand in der noch geöffneten Tür. Sie fragte ihn höflich mit einem breiten Lächeln im Gesicht, ob sie mitfahren dürfte. Jedoch ließ ee sie nicht einsteigen und blockierte die Tür mit seinen breit geöffneten Armen, mit der Erklärung, “wir müssen pünktlich abfahren”. Daraufhin drückte er den Knopf, woraufhin ein Warnsignal ertönte und die Tür vor ihrer und seiner Nase zuging. 

Solche Erfahrungen führten am Anfang zur Frustration und Anna hatte das Gefühl, in Deutschland nicht willkommen zu sein. In Polen (wie auch in den meisten Ländern der Welt) ist das Mitgefühl mit dem Menschen, den man gerade vor sich hat viel wichtiger als Ordnung, Regel oder Pünktlichkeit. In Polen hat Anna einmal in einem langen Schnellzug persönlich erlebt, dass ein Fahrgast feststellte, kurz nachdem er eingestiegen ist, dass er sich im falschen Zug befinde. Er sprach den Schaffner sofort darauf an. Der Zug fuhr bereits vom Bahnhof ab, aber zum Glück hatte der letzte Wagen des Zuges zu diesem Zeitpunkt den Bahnsteig noch nicht ganz verlassen. Mit der schnellen Hilfe des Personals hielt der Zug für eine kurze Weile für der Fahrgast an und er konnte durch den langen Zug zum letzten Wagen laufen, um dort am Bahngleis auszusteigen. In Deutschland ist solche Situation eher unwahrscheinlich, weil man für die eine Person nicht außerplanmäßig den Zug anhalten und den Fahrplan durcheinander bringen würde. 

Anfangs können Menschen aus anderen Kulturen die deutsche strenge Zeitplanung nicht nachvollziehen, denn diese kommt denen unmenschlich vor. Sie fühlen sich mit der deutschen Ernsthaftigkeit und Strenge, was Pünktlichkeit angeht unwohl und nicht willkommen. Anna erklärt dann im Training ihren ausländischen Teilnehmern, dass auch wenn ein deutscher Student kurz vor dem Pausenbeginn vor der Tür der Studentenberatung stände, die Mitarbeiter ihm auch den Zutritt verweigert hätten.  Vielmehr ermutigt Anna ihre Teilnehmer dazu, solche Situationen von der Vogelperspektive zu betrachten, sich in unser Gegenüber wie z.B. die Büroangestellte hineinzuversetzen, die vielleicht Hunger hat, und solche Ereignisse nicht persönlich zu nehmen. 

2. Die Deutschen sind direkt und ehrlich

Anna erzählte auch, dass Deutsche im Vergleich zu Polen sehr direkt sind und  dazu tendieren, ehrlich sagen, was sie denken, denn sie die Wahrheit sehr schätzen. Auch am Arbeitsplatz ist man es gewohnt, Feedback, Ratschläge, und sogar Kritik direkt ins Gesicht  zu sagen, um Klarheit zu schaffe.. Wenn Freunde oder Kollegen über das Verhalten des anderen kritisieren, können sie auch hinterher noch gut miteinander umgehen und einander mögen. Der Grund dafür ist, dass die Deutschen sachlich bleiben und das Verhalten der Person von der Würde des Person trennen und deswegen die Kritik nicht persönlich nehmen. In anderen Kulturen würde dieser direkte ehrliche Kommunikationsstil ein Gesichtsverlust bedeuten. 

3. Arbeits- und Privatleben sind in Deutschland klar getrennt

Außerdem war für Anna zunächst am Anfang ungewöhnlich, dass die Grenze zwischen beruflichem und privatem Leben unter Kollegen sehr klar war. Als sie frisch nach Deutschland umgezogen ist, freute sie sich bei ihrem Praktikum darauf, ihre Kollegen besser kennenzulernen und Freunde am Arbeitsplatz zu finden. Schnell musste sie jedoch feststellen, dass sich niemand in der Firma besonders dafür interessierte, in der Freizeit sich mit ihr zu treffen. Sie war von Polen gewöhnt, dass Kollegen auch Freunde werden können. Sie unternehmen auch gern etwas zusammen nach dem Feierabend. Aber in Deutschland treffen sich die Kollegen meist nur auf der Arbeit und für die Hobbies und Freizeitaktivitäten gibt es Freunde und andere Menschen, die sie nicht aus der Arbeit  kennen. 

4. Individualismus ist Deutschland stark geprägt 

Auch der ausgeprägte Individualismus der Deutschen ist ein Phänomen, das Anna sehr besonders fand. Wenn jemand mit polnischen Freunden auf eine Party geht und dann irgendwann als Erster nach Hause gehen möchte, würden ihn die Freunde darum bitten, etwas länger zu bleiben oder mit ihm zusammen die Party verlassen. Man hört dann:  „Warum gehst du so früh! Bleib doch länger. Wir können später zusammen gehen.“ Auf einer Party mit Deutschen ist das seltener. Man kann Partys einfach verlassen, wenn man möchte, ohne auf die gesamte Mannschaft Rücksicht nehmen zu müssen. Die Deutschen sagen normalerweise nur: „ Ich gehe langsam nach Hause. Bis zum nächsten mal“. Dann ist das so und niemand will ihn daran hindern. 

Die eigenen individuellen Bedürfnisse sind wichtiger als die Bedürfnisse der Gruppe. Andere Menschen haben Verständnis dafür, dass die Person, die gegangen ist, andere Dinge zu tun hat, oder einfach müde ist und fragen nicht nach, was der Grund ist, weil jeder Mensch eher ein Individuum als Teil der Gruppe sich versteht. .

Außerdem mögen und genießen die Deutschen das Alleinsein und schätzen auch die Zeit mit sich selbst. In Deutschland ist es sehr üblich, alleine zu reisen, allein in ein Café zu gehen, allein irgendwo ein Buch zu lesen oder etwas alleine zu unternehmen. Sie müssen nicht unbedingt die ganze Zeit mit einer Gruppe die ganze Zeit verbringen.

5. Deutsche sind distanziert

Natürlich gibt es in jedem Land introvertierte und extrovertierte Menschen, Menschen die auf die Menschen offen zugehen, oder lieber im Hintergrund bleiben. Das sind Persönlichkeitsmerkmale, die überall auf der Welt zu finden sind. Auf der anderen Seite gibt es auch gesellschaftliche Prägungen und kulturelle Tendenzen. Im Asien ist sogenannte Kollektivismus (Gruppenorientierung) offensichtlicher. In asiatischen Kulturen neigen Menschen dazu, Beziehungen mit anderen aufzubauen, zu pflegen und  legen großen Wert auf persönlichen Austausch und soziales Netzwerk. Kurz gesagt, sie sind mehr beziehungsorientiert als sach- oder faktenorientiert. Dabei kann es aber zu Überraschungen und und Missverständnissen in ihren ersten Kontakt zu Deutschen führen, wenn Deutsche distanziert bleiben und verstärkt auf Gesetze, Vorschriften und Details achten. Vor allem wenn man Beziehungen mit Deutschen aufbauen möchte, sollte man damit rechnen, dass es eine Weile dauern kann, bis ein Deutscher sich öffnet und jemanden fremden an sich heranlässt. Das kann ein Grund sein, warum manche Menschen aus Asien die Deutschen als kalt oder arrogant empfinden. Aber der Hintergrund ist, dass Deutsche bevorzugen, sachlich zu bleiben und Wert auf Fakten, Regelkonformität und die Wahrheit legen. Wenn man beispielsweise in Asien etwas nicht machen will oder eine andere Meinung hat, würde man sich dabei diplomatisch und vorsichtig verhalten und es in nettere Worte verpacken, damit, wie oben bereits erwähnt, die andere Person nicht das Gesicht verliert, sich nicht schämt oder verletzt fühlt, aber die Deutschen wollen lieber wahrheitsgetreu und sachlich kommunizieren und deswegen sprechen sie auch Meinungsverschiedenheiten offen an.

Warum ist uns die Fähigkeit zur interkulturellen Kommunikation wichtig?

Am Ende des Interviews war ich neugierig und fragte Anna, warum interkulturelle Kommunikationsfähigkeiten wichtig sind und warum wir uns diese Kompetenz aneignen sollten?

Anna antwortete, wenn wir vorhaben, in ein anderes Land umzuziehen, oder mit Menschen aus einer anderen Kultur geschäftlich zu kooperieren, sollten wir uns zuerst mit den Grundlagen der Kultur des jeweiligen Landes vertraut machen, so wie wir nicht mit dem Auto auf die Straße losfahren, ohne die Verkehrsregeln zu kennen. Doch für Anna geht es bei der interkulturellen Kompetenz nicht nur um Erfolg des Berufslebens, sondern um Erweiterung der eigenen Horizont. Wenn wir nicht die Möglichkeit haben, die fremde Kulture kennenzulernen, werden wir in der Regel wenig über die im eigenen Land erworbenen Werte, Bräuche oder Gewohnheiten oder Verhaltensweisen nachdenken. Wie werden über die eigenen Verhaltensweisen nicht reflektieren, denn für uns sind sie selbstverständlich, weil gefühlt jeder rund um uns so denkt oder sich so verhält. Wenn wir jedoch einen respektvollen tiefgründigen Austausch mit fremden Kulturen haben, werden wir feststellen, dass es nicht nur eine einzige Lebensweise gibt, die wir durch Erziehung und Sozialisierung erfahren haben und dankesessen können wir uns bewusster dafür entscheiden, wie wir leben möchten und welche Lebensweise zu unserer Persönlichkeit besser passt. 

Wir wünschen Euch viel Erfolg und schöne tiefgehende Erkenntnisse in Deutschland!

Verfasst von Shuyi Yang, Intercultural Success