#58 Vergangenheits-, gegenwarts- und zukunftsorientierte Kulturen


Wie wichtig ist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in unterschiedlichen Kulturen?

Heute geht es darum, welche Bedeutung der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft in unterschiedlichen Kulturen beigemessen wird. Dazu erfährst Du von mir:

+ welche Länder eher vergangenheitsorientiert, gegenwarts- oder zukunftsorientiert sind
+ woran es zu erkennen ist und welche Eigenschaften typisch für diese Kulturen sind
+ wie sich Deutschland einordnen lässt
+ meine persönlichen Lieblingszitate zum Thema Zeit
Ich wünsche Dir viele spannende Erkenntnisse beim Zuhören!

 

 

Den interkulturellen Podcast „Deutschland und andere Länder“ gibt es auch unter:

https://itunes.apple.com/us/podcast/id1366874160

https://open.spotify.com/show/1x1qkOIpBPOgW23GdzTCrS?si=6gp_-lqwQd6uVEA4HzGKcQ

 

 

Zusätzlich gibt es hier die Folge zum Nachlesen:

Deutschland und andere Länder mit Anna Lassonczyk“ – Der erste und einzige Podcast in Deutschland, Österreich und der Schweiz, der sich mit interkultureller Kommunikation beschäftigt, spannende Impulse über fremde Länder liefert, entfernte Kulturen näher bringt und erfolgreiche Menschen mit internationaler Erfahrung interviewt.

Seit zwei Wochen habe ich im Podcast „Deutschland und andere Länder“ das Thema Zeit im Fokus. Es geht darum, wie unterschiedlich Kulturen mit der Zeit umgehen. Wir haben schon darüber gesprochen, warum Zeit in der interkulturellen Kommunikation so eine wichtige Rolle spielt. Dann ging es weiter mit der Wechselbeziehung zwischen Zeit und Kultur. Ich habe Dir auch unterschiedliche Zeitauffassungen präsentiert und den Unterschied zwischen der zyklischen und linearen Zeitvorstellung und der konkreten und abstrakten Zeitauffassung näher gebracht. Danach ging es um ein Experiment zum Lebenstempo an einem Ort, wobei Du die schnellen und langsamen Kulturen anhand der Ergebnisse der Studie kennengelernt hast. Du konntest zudem in einem Test Dein persönliches Lebenstempo herausfinden. Nun weißt Du auch, was der Zusammenhang zwischen dem Umgang mit der Zeit und dem Wohlbefinden ist und warum Japan einen Widerspruch darstellt. Des Weiteren habe ich Dir den Unterschied zwischen monochronen und polychronen Kulturen beigebracht, dabei handelt es sich um die sogenannten Multitasking- und Abhack-Kulturen, die ganz brav und geordnet, eine Sache nach der andere machen. In der heutigen Folge geht es um die vergangenheits-, gegenwarts- und zukunftsorientierten Kulturen.

Im Zusammenhang mit dem Bezug der Menschen zur Zeit gibt es den Unterschied zwischen vergangenheits-, gegenwarts- und zukunftsorientierten Kulturen, je nach Bedeutungsgrad der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für die Kultur. Die drei Kulturtypen lassen sich grob wie folgt charakterisieren: die vergangenheitsorientierten Kulturen sind bemüht, die Vergangenheit und Traditionen zu pflegen und sie auf die Zukunft einwirken zu lassen. Für die gegenwartsorientierten Kulturen hat Zeit eine untergeordnete Bedeutung, sie sind relativ traditionslos, nicht um die Zukunft besorgt und leben vielmehr im Hier und Jetzt nach dem Motto: „Was kümmert uns der Schnee von gestern?“. Sie genießen vielmehr den Moment. Die zukunftsorientierten Kulturen verinnerlichen eine Vision von einer immer besseren Zukunft und sind damit beschäftigt, neue Zielsetzungen zu realisieren. Sie wollen, dass der morgige Tag besser ist als der gestrige und sie opfern die Gegenwart für eine bessere Zukunft. Die jeweilige lineare oder zyklische Zeitvorstellung spielt dabei eine große Rolle. Wenn Du nicht weißt, was der Unterschied zwischen einer zyklischen und linearen Zeitvorstellung ist, kannst Du Dir gerne die Folge 47 anhören. Es macht natürlich einen Unterschied, ob in der jeweiligen Kultur die Zeit als eine Zeitachse bzw. als ein Pfeil, der nach oben gerichtet ist, gesehen wird oder als Kreis bzw. eine Spirale, in der die Tage und Jahre sowieso immer wieder kommen.

Wie wichtig und abweichend die Zeitorientierungen sind, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass die Asiaten vor kurzem keinerlei Organ für Begriffe wie „Zukunft“ oder „Fortschritt“ hatten. Für sie bedeutete Veränderung Verfall. Man hatte Angst vor allem, was neu ist. Alles Alte war als solches viel wertvoller. Darüber habe ich auch mit Tobias Beck im Interview gesprochen. Das Vorgespräch zum Interview konntest Du Dir bereits in der Folge 48 am vergangen Freitag anhören. Da brachte er unter anderem ein Beispiel aus Japan. Ich finde, dass es eine super amüsante und informative Folge war. Wenn Du sie noch nicht gehört hast, kann ich sie Dir wärmsten empfehlen.

Die westliche Zukunftsvorstellung hängt im Gegensatz zu den asiatischen Kulturen mit der christlichen Lehre, der Fortschrittsidee mit der wachsenden Naturbeherrschung, der zunehmenden Kenntnis sozialer Gesetzmäßigkeiten und dem Durchbruch der Vernunft zusammen. Nicht mehr „in Gottes Hand“, sondern „alles im Griff“ – so etwa lautete die europäische Botschaft, die zudem von Zukunftsoptimismus begleitet war. Selbstbestimmung des Individuums, Abbau einschränkender Konventionen, Emanzipation und Zukunftserwartungen – dies alles waren Forderungen, die in Asien, wo ja Vergangenheit vor Gegenwart, Gemeinschaftsbildung vor persönlicher Autonomie und Schicksalsgläubigkeit vor Machbarkeit geht, auf Erstaunen und Unverständnis stoßen mussten.

Es lässt sich erkennen, dass die Differenzen in Einstellung zu der Zeit in unterschiedlichen Religionsbekenntnissen liegen. Den Zusammenhang veranschauliche ich an einem hinduistischen Beispiel. Dazu erzähle ich eine Kurzgeschichte. Das geschilderte Ereignis passierte 1982 im heutigen Indien. Einem Sudra, ein Angehöriger der untersten Kaste, der in Varanasi in armen Verhältnissen lebte, wurde eine Arbeit zu einem relativ guten Stundenlohn auf dem Baugelände der Universität, wo seine Bretterhütte stand, angeboten. Daraufhin verschwand er kurz in der Hütte und fragte seine Frau, ob es noch ausreichend Reis für diesen Tag im Hause gebe. Als sie es bestätigte, lehnte er die Arbeit ab. Interkulturelle Forscher haben erkannt, dass sich Hindus durch eine gelassene Zeiteinstellung und das Fehlen der Vorschau in die Zukunft auszeichnen. Das ist vermutlich an die dortigen klimatischen Gegebenheiten gekoppelt, die mehrere Ernten jährlich ermöglichen, sodass für Landmänner keine Vorräte für den Winter erforderlich sind und sie dadurch kein Konzept der Vorsorge kennen. Dieser Kulturstandard ist ebenfalls mit der, für von Indien ausgehende Religionen, also Hinduismus, Buddhismus, Jainismus, Sikhismus, charakteristischen Vorstellung des endlosen Kreislaufs der Zeit und der Ereignisse verbunden. Da kann ich Dir wieder die Folge 47 ans Herz legen.

Da menschliches Handeln nicht aus der Befreiung des Kreislaufs führt, wird ihm weniger Bedeutung beigemessen. Demgegenüber sind westliche Religionen wie Christentum, Judentum und Islam auf die Endzeit eingestellt. Der Glaube an einen unwiederholbaren und zielgerichteten Geschichtsverlauf verursacht die Empfindung, dass „die Zeit drängt“ und lässt keine Zeitverschwendung zu. „Zeit ist Geld“, ist hier das Motto. Ferner wird durch gegenwärtige Handlungen auf die Zukunft hingearbeitet. Dieses religionsbedingte Zeitkonzept spiegelt sich exakt in dem deutschen Kulturstandard „Zukunftsorientierung“ wieder.

Maletzke, ein bedeutsamer interkultureller Forscher aus Deutschland, hat festgestellt, dass sich Kulturen darin voneinander unterscheiden, dass sie sich schwerpunktmäßig stärker an der Vergangenheit, an der Gegenwart oder an der Zukunft orientieren. Sämtliche Kulturen müssen sich zwar mit allen dreien auseinandersetzen, doch es bestehen deutliche Unterschiede in der Gewichtung. Er kommt zu dem folgenden Ergebnis: Lateinamerikaner, Menschen des Mittelmeerraumes und viele Afrikaner sind gegenwartsorientiert. Sie leben weitgehend im Hier und Jetzt, was vergangen ist, ist vergangen, und die Zukunft ist dunkel und unvorstellbar. In der Vergangenheit lebten einige asiatische Kulturen, so z. B. die Chinesen, ersichtlich in der Ahnenverehrung und in der Wichtigkeit der Familientradition; ebenso blicken die Araber mit Stolz auf eine sechstausendjährige Kultur zurück, oft verbunden mit Schmerz und Trauer darüber, dass diese Zeiten vorbei sind. Die Vergangenheit hat auch für die meisten Europäer noch immer einen gewissen Stellenwert, speziell bei den Engländern, ganz im Unterschied zu Nordamerikanern. Bei den Amerikanern steht die Zukunft ganz oben an, man ist davon überzeugt, dass alles immer größer und besser werden muss; Gegenwart und Vergangenheit sind nicht so wichtig. So können die Amerikaner den Respekt der Engländer vor der Tradition nicht nachvollziehen, und die Engländer verstehen nicht, wie man ihr gegenüber so gleichgültig sein kann. Vor allem calvinistisch beeinflusste Kulturen sind stark zukunftsorientiert. Zu ihrer Weltsicht gehört deshalb harte Arbeit und Erfolg im Geschäftlichen mitsamt einer anspruchslosen Lebensweise – in der Überzeugung, dass Gott diese Einstellungen belohnen wird.

Im Kontrast dazu lässt sich zum Islam feststellen, dass im Alltagszeitverständnis des gläubigen Muslims Zukunft keine Rolle spielt. Er beschäftigt sich nicht mit den Ereignissen, die morgen oder übermorgen oder noch später eintreffen können – oder auch gar nicht, weil es dem Gläubigen nicht ziemt, sich mit Dingen, die in der Zukunft liegen zu beschäftigen. Dies bleibt Allah überlassen, der alleine entscheidet, was die Zukunft bringen wird. Wenn wir in arabischen Ländern unterwegs sind und zwei oder drei Monate im Voraus einen Termin machen wollen, kommt das den Menschen dort vor, als ob wir uns hier in Deutschland zum Beispiel im Jahr 2022 am 17. Januar um 12.13 Uhr verabreden würden. Das würde uns auch komisch und zu weit entfernt in der Zukunft vorkommen.

Auch Hall, den Du in der vergangen Woche im Zusammenhang mit polychronen und monochronen Kulturen kennenlernen konntest (hier will ich Dir die Folge 54 ans Herz legen), beschäftigte sich mit den Differenzen zwischen vergangenheits- und zukunftsorientierten Kulturen und bezeichnet diese als eine zeitliche Perspektive der Kultur. Auch sagte er den berühmten Satz, dass Zeit Kommunikation sei. Wie wir mit der Zeit umgehen, bringt nämlich zum Ausdruck, was uns wichtig ist. Die Einordnung einzelner Länder als vergangenheits- und zukunftsorientiert weicht jedoch an einigen Stellen von der bereits präsentierten deutschen Einschätzung ab. Naher und Ferner Osten sowie Indien sind demnach an der Vergangenheit interessiert; die Vereinigten Staaten an der Gegenwart und der nahen Zukunft; und Lateinamerika sowohl an der Vergangenheit als auch an der Gegenwart. Bezüglich Deutschland legen die amerikanischen Autoren folgende Sichtweise dar: In Deutschland, wo der historische Hintergrund sehr wichtig ist, beginnt jedes Gespräch, jedes Buch und jeder Artikel mit Hintergrundinformationen und einer historischen Perspektivierung. Das kann einige Ausländer irritieren, da sie sich wundern: „Warum können sie die Vergangenheit nicht einfach abschließen?“ Des Weiteren sind Japaner und Franzosen zwar auch tief in ihrer geschichtlichen Vergangenheit verwurzelt und erwähnten die historischen Fakten aufgrund ihres hohen Kontextbezugs indirekt, sie stehen jedoch mit beiden Beinen fest in der Gegenwart und sind zukunftsorientiert. Gründe für die unterschiedlichen Zeitorientierungen nennt Hall nicht.

Zum Abschluss dieser Folge präsentiere ich Dir zwei meiner Lieblingszitate zum Thema Zeit:„Yesterday is history, tomorrow is a mystery, today is a gift, that’s why they call it present.“ Ein anderer sehr plakativer Spruch besagt: „Als Gott die Welt erschuf, gab er dem Westen die Uhren und den Arabern die Zeit.“

Ich freue mich, wenn ich Dich mit diesen Zitaten und den Ausführungen zum Thema vergangenheits-, gegenwarts- und zukunftsorientierten Kulturen inspirieren konnte. Vielleicht überdenkst Du ja auch Deine Einstellung zum Thema Zeit. Morgen geht es weiter mit dem Unterschied zwischen kurzfristigen und langfristigen Kulturen.

Wenn Du von der Folge etwas mitnehmen konntest, freue ich mich sehr, wenn Du diese auf der App oder wo auch immer du sie Dir anhörst, bewertest oder einen Kommentar hinterlässt, insbesondere wenn Du einen Wunsch hast, was Du noch von mir hören möchtest oder wenn Du eine Idee hast, wie ich diesen Podcast für Dich noch interessant machen könnte. Bis morgen und vielen Dank!

 

 

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